Im Jahr 2018 fand die General Assembly (GA) von ASF-International vom 19. – 22. April in Marseille statt. Ausgerichtet wurde die Veranstaltung von unserer Partnerorganisation ASF-France unter dem Titel ”Welcoming City / Ville Accueillante”.
Über 30 Teilnehmende aus 16 Ländern und 5 Kontinenten sind trotz erschwerter Reisebedingungen (Streiks im Bahn- und Luftverkehr) gekommen und haben ihre vielfältigen Projekte, Initiativen und Ideen in den vier Tagen im großem Kreis und in kleinen Gesprächsrunden vorgestellt. Auch Architekten über Grenzen e. V. war mit drei Teilnehmenden vertreten (Frank Bertram, Sandra Köster und Thomas Schinkel). Auf Grund der Streiks konnten leider einige unserer Mitglieder den Veranstaltungsort nicht erreichen
Mit ihren 900.000 Einwohner:innen ist Marseille die zweitgrößte Stadt Frankreichs, ein wirtschaftliches und kulturell pulsierendes Zentrum in attraktiver Lage am Mittelmeer. Die ebenso hochwertigen Veranstaltungsorte waren über das Stadtgebiet verteilt. Wie keine andere französische Stadt ist Marseille seit etwa 150 Jahren für Generationen von Migrant:innen unterschiedlicher Herkunft das Tor nach Frankreich und Europa. Die vielen Einwanderungsschübe (u.a. Menschen aus Phönizieen, Griechenland, Deutschland, Italien, Spanien, Armenien und aus vielen Ländern Afrikas und Asiens) lassen sich bis heute im Stadtbild ablesen. Der wirtschaftliche Druck führt dazu, dass sich alte Stadtviertel unter hohem Einwanderungsdruck rasant verändern. Die gegensätzlichen Interessen prallen unmittelbar aufeinander.
Am ersten Veranstaltungstag fand unter Leitung von ASF-UK in den Räumlichkeiten der Architekturfakultät ENSA-M wieder ein Challenging-Practice Seminar statt. Die Gebäude der ENSA-M liegen auf dem ausgelagerten Luminy-Campus direkt am Tor zum Calanques-Nationalpark in faszinierender Umgebung. Bei der ganztägigen Veranstaltung konnten sich die Teilnehmenden über die Grundzüge dieses von mehreren ASF-Partnerorganisationen entwickelten Fortbildungsangebotes für Absolventen informieren und sich über sinnvolle Tätigkeiten in der Entwicklungszusammenarbeit informieren. Im Anschluss fand im Amphitheater der Architekturfakultät eine Vorstellung von ETC statt. ETC ist eine Organisation, die im städtischen Zusammenhang Analysen und Bewertungen von Problemzonen durchführt und gemeinsam mit öffentlichen und privaten Einrichtungen/Organisationen Lösungsvorschläge erarbeitet. Dies geschieht auf lokaler Ebene und im partizipativen Prozess. Konkret ging es dabei um die Situation von Flüchtlingen auf Lesbos.
Die Vollversammlung fand am zweiten Tag in den Räumlichkeiten der Architektenkammer Marseille. Wesentliche Punkte waren die Vorstellung des Rechenschaftsberichts, die Entlastung des Vorstandes, die Vorstellung des Aktionsplans für die kommenden beiden Jahre und wie in jedem Jahr die Neuwahl des neuen Vorstands. Der Vorstand aus alten und neu gewählten Mitgliedern für 2018-2019 setzt sich folgendermaßen zusammen:
– Chair-person: Lígia Nunes
– Vice Chair I: Xavier Codina
– Vice Chair II: Amani Alshaaban
– Secretary General: Guruprasad Rane
– Treasurer: Stéphane Plisson
– Board member: Andrea Fitrianto:
– Board member: Bruno Demers
– Board member: Henry Cardona
– Board member: Pawan Shrestha
– Board member: Kristjana Adalgeirsdottir
Der dritte Tag stand mit Vorträgen und Podiumsdiskussionen externer Redner und Beiträgen von ASF-Mitgliedern ganz im Zeichen des diesjährigen Themas mit der Veranstaltung ”ASF Dialogue – Welcoming Cities“. Veranstaltungsort war diesmal das vom Architekten Rudy Riciotti entworfene und 2013 als “Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers” eröffnete MUCEM. Es ist das erste Nationalmuseum außerhalb von Paris und ein außergewöhnliches Ausstellungsgebäude in herausragender Lage am Zugang zum alten Hafen mit einem großen Auditorium für Veranstaltungen.
Folgende Projekte wurden vorgestellt:
Cyrille Hanappe (Actes&Cités)
– zur Situation in den Flüchtlingslagern von Calais und Grand Synthe
Pierre-Charles Marais (ASF-France)
– zur Begleitung und Unterstützung der Flüchtlinge in den etwa 30 bidonville von Marseille
Esther Charlesworth (ASF Australia)
– zur Inklusion ausgeschlossener Gruppen im Stadtebau
Simon Deprez&Eléonore Labattut (ETC-Portugal)
– Studie zu alternativen Behausungen für die Lager in Thessaloniki und Umgebung
Sandra Köster (AoG Österreich, AüG Deutschland)
– “Sandbox Projekt” zur Einbeziehung, Verbesserung und Unterbringung Obdachloser
Min Tang (DBSA)
– befristete Aufnahme zu langfristiger Integration mit Beispielen aus Indien
Tatsiana Piatrova u.a. (Weißrußland)
– Wiederherstellung von Stadvierteln in Asmalouka
Ligia Nunes (ASF-Portugal)
– Wechsel in den Paradigmen von Städtebau und Erziehung
Am letzten Tag konnten die Teilnehmer an einer Stadtführung durch die von Migration geprägten Innenstadtviertel Marseilles teilnehmen, in denen von den Anfängen der Stadt um 800 v. Chr. bis heute, viele europäische, afrikanische und asiatische Menschen Schutz suchten und versuchten sich eine Existenz aufzubauen. Ein besonderes Ereignis der jüngeren Geschichte war die Sprengung von fast 2000 Gebäuden in der Altstadt an der rechten Seite des Vieux Port 1943 auf Anordnung von Himmler und ausgeführt durch französiche Soldaten des Vichy-Regierung. Dies war eine mehrfache tiefe Wunde. Den Nazis war das nicht beherrschbare, verwinkelte und von Flüchtlingen und Resitancekämpfern bewohnte Stadtgebiet ein Dorn im Auge. Mit einem sehr sensiblen Wiederaufbau (1951 – 54) gelang dem Architekten Fernand Poullon, zumindest die städtebauliche Wunde angemessen und dauerhaft zu schließen. Der Rundgang führte über viele sehr belebte und beliebte Plätze, Straßen und Gassen. Die gegensätzlichen Interessen der Bewohner und ihre räumlichen Entsprechungen sind im Stadtbild von Marseille auf Schritt und Tritt erkennbar.
Verfasser: Thomas Schinkel